20 Jahre Diabetes: nichts als die Wahrheit 

Was geht einem eigentlich durch den Kopf, wenn man im Alter von 14 Jahren mit der Tatsache konfrontiert wird, dass man Diabetes Typ 1 hat? Kommt, ich nehme euch mit auf eine Zeitreise durch meine Gefühls- und Gedankenwelt, beginnend im Jahr 1997, direkt nach der Diagnose „Diabetes Typ 1“, bis ins aktuelle Jahr 2017.  Getreu dem Motto: So war das „damals“, so ist das heute. Es ist viel passiert und der Diabetes hat meine Psyche stark beeinflusst (mehr dazu lest ihr im Text) und mich mitunter zu dem gemacht, was ich heute bin.

Fast auf den Tag genau habe ich diesen Diabetes nun 20 Jahre an der Backe… ich finde das reicht. Doch Diabetes Typ 1 ist noch heute (scheinbar) ein ungelöstes Rätsel, mein sehnlichster Wunsch: Heilung! Warum? Darum:

Wir schreiben Februar 1997…

Erinnerungsfotos von damals… Der Diabetes hat und nimmt auch heute noch Einfluss auf mein Leben

Actrapid (Kurzzeit-Insulin), Protaphan (Langzeit-Insulin), Einwegspritzen, Blutzuckerteststreifen in Alufolie verschweißt, Lanzetten, ein klobiger Kasten, der meinen Blutzucker messen kann, eine Stechhilfe, ein Blutzuckertagebuch, mehrere Seiten ausgedruckter BE/Nährwert-Tabellen, Übersichten mit verschiedenen Formeln zur Berechnung von Insulindosen, ein Diätplan, eine Küchenwaage, ein Rezeptbuch und ein weiteres Buch, das alle „wichtigen“ Informationen über Diabetes beinhaltet. „Bitteschön“… So so, das soll mich nun immer begleiten.
Außerdem „gratis“ bot man mir ein tolles „all inclusive“-Unterhaltungsprogramm in der Klinik in Bad Bevensen: zahlreiche unangenehme Untersuchungen, Schulungen, zickige Krankenschwestern, Anweisungen wie „keinen Zucker mehr essen“, „keinen Sport mehr treiben“, …  Ach und nicht zu vergessen: die gemeinsamen Mahlzeiten mit den anderen Patienten. Da waren ausschließlich Typ-2-Diabetiker, die eisern ihre Kalorien zählten. Ich sollte das auch tun. Warum auch immer, zu dick war ich nicht, oder? Keine Ahnung. Bei einer Größe von damals 1,63 m wog ich 52 kg. Aber meinetwegen zähle ich Kalorien und BEs. Das was ich aß, konnte ich an fünf Fingern abzählen. Appetit hatte ich nämlich keinen (mehr). Der war mir vergangen. Nicht zuletzt weil man mich jeden Tag auf die Waage stellte, um neben Blutzuckerwerten jegliche Gewichtsveränderung zu dokumentieren und blöd zu kommentieren. All das sollte ich dann fortan zu Hause selbst tun. Mit 14 Jahren freute ich mich schon auf dieses neue, streng kontrollierte, Zahlen- und Faktorenabhängige Leben.

Mein neues Leben mit Diabetes…

Tschüss Leben, Hallo Psychater! Letzteren durfte ich tatsächlich auch gleich in der Klinik besuchen. Einmal und nie (sag niemals nie) wieder, ich hatte keine Lust zum Reden. Worüber auch? Die in der Klinik meinten, ich sei halt noch nicht soweit für solche Gespräche… Von wegen. So lange mir keiner sagen konnte, warum ich Diabetes habe, was das jetzt alles soll, wollte ich mit denen halt nicht reden. Hallo? Ich war 14 Jahre und in der Pubertät!

Wer Diabetes hat, muss auch (zuckerfrei) kochen können?!?

Dann schickte man mich wohl doch besser erst mal zum Kochkurs. Gut, dass ich am Kochen noch nie wirklich Spaß hatte. Aber klar, wer Diabetes hat, muss auch zuckerfrei (versteht sich… NICHT) kochen können. In der Gemeinschaft macht das doch so viel Spaß. Na klar, vor allem wenn dir jemand dabei von seiner Fußuntersuchung berichtet, ganz nebenbei noch über weitere Folgeschäden erzählt, die der Diabetes so mit sich bringen kann. Man, freute ich mich schon aufs Essen.

Warum habe ich eigentlich Diabetes?

Innerlich kochte ich, ansonsten ließ ich den anderen an der Herdplatte Vortritt. Warum konnte mir hier wohl keiner sagen, warum ich Diabetes habe, was ich verdammt noch mal falsch gemacht habe, dass mich das Leben so straft? Irgendein Virus, idiopathisch, autoimunbedingt… hieß es. „WTF“, so eine Antwort reicht mir nicht.

Verstöße gegen die Klinik-Regeln

Die Klinik war für mich die Kammer des Grauens, schlechthin. Ich freute mich aber riesig über Besuch von meiner Familie (meine Eltern besuchten mich JEDEN Tag), meinen Freunden, die mir vom Leben fernab erzählten, die ich teils bat, mir ein paar Gummibärchen einzuschleusen. Davon aß ich schlechten Gewissens 3, höchstens 4 am Tag, um sie anschließend im Park wieder zu verbrennen. Denn ich habe sehr schnell gelernt, wie viel ich laufen musste, um eine gewisse Menge an Zucker zu verstoffwechseln ohne das mehr Insulin nötig war und mein Blutzucker nicht eskalierte. Davon erzählte ich niemanden. Schließlich hatte man mir Zucker und Sport untersagt.
Ich hatte ständig Angst mehr zu spritzen und zu essen als mein Plan vorsah, schließlich hatte ich genügend Bilder von Menschen mit Diabetes und ihren Folgeerkrankungen vor die Nase gehalten bekommen und das bereits am zweiten Tag, an dem ich mich auch das erste Mal selbst spritzen sollte. „Je eher desto besser“, hieß es. Ich wollte nur noch nach Hause! Tatsächlich weinte ich mich oft in den Schlaf. Ja es gibt Schlimmeres, aber in dem Moment war eben genau das schlimm für mich.

Ein steiniger Weg lag vor mir…

Von 1997 an war es bis heute ein langer, teils sehr steiniger Weg. Auf diesem Weg begleiteten mich nach dem Klinlikaufenthalt (wie, welch Wunder, auch zahlreiche andere dort behandelte Patienten) eine atypische Anorexie, Angststörung, Depression, Isolation… Doch ich fand meinen Weg wieder raus: Ich entwickelte einen starken Ehrgeiz, zog mein Abi und Studium durch, was mir niemand zugetraut hatte. Ich holte mir auch psychologische Hilfe, fand neue Freunde, Halt, Verständnis und Unterstützung in Selbsthilfegruppen und später in Foren und in den sozialen Netzwerken. Gründete eigene Gruppen, damals noch bei studiVZ („jaaa, ich habe Diabetes und jaaa, ich esse Zucker“). Damit war ich so ziemlich die erste. Auch mit diesem Blog hier war ich früh dran, lediglich der von Ilka und Finn war mir damals bekannt.
Heute gibt es unzählige Blogs, was ich einerseits sehr schön und gewinnbringend finde, mir andererseits auch manchmal etwas zu viel wird. Letzteres liegt mitunter daran, dass zu viel kopiert/geklaut wird und durch zu intensives Sponsoring seitens Pharma seinen Charme verliert. Das ist aber ein anderes Thema, siehe auch: Rock the Blog: Über mein digitales zu Hause… Ich möchte nur zum Ausdruck bringen, dass ich die Diabetes-Community sehr schätze und den Austausch untereinander oft hilfreicher finde als ein 7 Minuten Gespräch mit dem Diabetolgen. 

Heute sieht alles anders aus?!?

Meinen Mann Hendrik hatte ich während des Studiums kennengelernt. Er hat mich (nicht nur) in Sachen Diabetes unterstützt wie sonst nur meine Eltern. Sie waren immer für mich da, in ständiger Sorge und Bereitschaft, haben mir tatsächlich zweimal das Leben gerettet!!! Hendriks Vater hatte auch Diabetes Typ 1. Hatte? Nein, er ist natürlich nicht geheilt, er ist vor zwei Jahren verstorben.

Auch heute ist (angeblich, man weiß ja nie, was uns vorenthalten wird, um Geld zu scheffeln) noch keine Heilung von Diabetes in Sicht, aber es passiert viel: Ich nutze längst keine Einwegspritzen mehr, sondern eine schlauchlose Insulinpumpe, verstehe Zucker nicht als Gift oder Verbot, treibe ausgiebig Sport, habe einen guten Diabetologen und eine Community gefunden, bei denen ich mich wohl und verstanden fühle. Mein Mann, meine Familie und Freunde wissen, was Sache ist und mit mir umzugehen ;), wenn ich beispielsweise während einer Hypo wieder zur Diva Dämonenfürstin (Anmerkung des Lektorats :D) werde ;).
Auf dumme Vorurteile (leider werde ich noch oft damit konfrontiert) reagiere ich in der Regel  gelassen. Artikel über Folgeschäden lese ich nicht, weil sie mir auch heute noch Angst machen und sie mich depressiv stimmen. In mein tägliches Blutzuckermanagenent stecke ich sehr viel Energie, nutze die neusten technischen Hilfsmittel. Ich achte sehr auf meine Ernährung, esse kein Gluten, keine Laktose, kaufe frisch vom Markt und versuche (!) Stress zu reduzieren. Letzteres fällt mir sehr schwer und ich muss noch lernen gelassener zu werden, aber ich arbeite auch daran.

Ob mich der Diabetes nervt? Ja und ich glaube übrigens niemanden, der mir erzählt, dass es ihm eine Freude ist, sich tagtäglich damit rumzuschlagen. Es ist nun mal ein 24-Stunden-Job, mit dem man in der Regel gut leben kann, der aber ohne Frage jedem auch Disziplin, Motivation und Stärke abverlangt.  Was sich in anderen Lebensbereichen durchaus positiv bemerkbar macht und der ein oder andere Arbeitgeber beispielsweise sehr zu schätzen weiß. Wichtig ist in jedem Fall, dass man die Krankheit Ernst und niemals auf die leichte Schulter nimmt! Diesbezüglich habe ich leider schon die skurilsten Kommentaren in den sozialen Netzwerken gelesen.

Sooo… Tacheles: Ich habe den Diabetes an der Backe, versuche tagtäglich das beste draus zu machen, positiv zu denken. Das versuchen wir wohl alle. Keiner kann jedoch den Blutzucker perfekt steuern, denn Hormone lassen sich nicht überlisten, Na und eine Funktion eines Organs zu übernehmen ist wohl definitiv eine Herausforderung.
Ich bin dankbar, für all die medizinischen Fortschritte, die bis heute gemacht wurden, etwa Insulinpumpen, CGM-/FGM-Systeme, dass uns genügend Insulin zur Verfügung steht… Das ist wirklich VERDAMMT hilfreich, aber dennoch, bleibt mein sehnlichster Wunsch: HEILUNG! Insbesondere dann wenn ich wieder mal keine Erklärung für das Blutzuckerchaos finde, wenn ich nachts (glücklicherweise wache ich auf) aufwache, weil der Blutzucker zu niedrig ist oder wenn ich einfach mal aus dem Moment heraus Sport treiben möchte oder oder oder … Wie geil (sorry) wäre das bitte?
Geteilte Freude ist doppelte Freude!Share on Google+Share on FacebookTweet about this on TwitterPin on Pinterest