Diabulimie: Niemand versteht die Komplexität der erkrankten Seele

RTL hatte mich kürzlich darum gebeten, einen Aufruf über meinen Blog zu starten, um den Sender bei der Suche nach Diabulimie-Betroffenen für die Sendung „Punkt 12“ zu unterstützen. Zur Erinnerung: Diabulimie: RTL sucht dich.

Nachdem ich Kontakt zwischen der Redaktion und einigen Diabetikern hergestellt hatte, kam jedoch keinerlei Rückmeldung mehr vom Sender. Erst nach mehrmaligen Nachfragen wurde mir in knappen Worten mitgeteilt, dass die Sendung bereits abgedreht sei, und dass sie sich für Lisa (eine der von mir vermittelten Kandidatinnen) entschieden hätten. Mittlerweile wurde die Sendung scheinbar auch schon ausgestrahlt, Lisa hat mutig ihre Geschichte erzählt: Zum Video.

Die Unprofessionalität dieser Vorgehensweite von RTL sei nun mal dahingestellt, die haben wir schon auf meiner Facebook-Seite diskutiert. Ich möchte an dieser Stelle vielmehr das Thema „Diabulimie“/“Insulin-Purging“ noch einmal aufgreifen. Denn ich habe erschreckend viele E-Mails von Typ-1-DiabetikerINNEN erhalten, die von dieser Krankheit betroffen sind.

Ich habe mich mit einigen per E-Mail und auch per Telefon ausgetauscht. (RTL haben ja die Hintergründe nicht wirklich interessiert, Hauptsache die Sendung war im Kasten). Jede/r (überwiegend Frauen) hatte natürlich seine eigene Geschichte zu erzählen. Ich habe allerdings viele interessante Gemeinsamkeiten feststellen können:

  • Die meisten haben die Diagnose „Typ 1 Diabetes“ im pubertären Alter bekommen,
  • wurden in einer Klinik behandelt, die sehr strenge Diät-Vorgaben/BE- und Zeitpläne hatte (starke Kontrolle).
  • Nahezu alle Betroffenen beschrieben, dass ihnen die Steuerung des Gewichts über die (Nicht-)Zufuhr von Insulin Kontrolle gibt/gegeben hat und,
  • dass sie regelrecht Angst vor Insulin haben/hatten,
  • sich aufgequollen fühl(t)en, sobald sie es spritzen/gespritzt haben,
  • sich das Essen nur erlauben können/konnten, wenn Sie kein Insulin dazu spritz(t)en.
  • Oft waren neben der Diabulimie auch andere Essstörungen wie Magersucht und Bulimie Thema, wobei letztere sich oft bei Heißhungerattacken als Folge von Unterzuckerungen äußerte, um das verschlungene Essen schnell wieder loszuwerden.
  • Kaum einer der Diabulimie-Betroffenen hatte in etwa 20 Jahren Diabetes-Karriere auch nur einen einzigen HbA1c-Wert im einstelligen Bereich, im Schnitt lag der HBA1c bei etwa 15 Prozent.
  • Alle Betroffenen haben nicht nur ihr Gewicht verloren, sondern auch ihre Lebensfreude! Flogeerkrankungen, Schmerzen am ganzen Körper, Depressionen, Isolation gesellten sich dazu.
  • Und noch interessanter, gleichzeitig sehr erschreckend ist: Keine/r der Betroffenen konnte bestätigen, dass Ihnen eine Therapie wirklich weitergeholfen hat.

Dazu möchte ich an dieser Stelle Reginas Geschichte publik machen (ich hab sie natürlich gefragt, ob das in Ordnung geht). Ihre Geschichte hat mich sehr mitgerissen und ich verspreche mir davon, dass Diabulimie-Betroffene damit die Gefahren dieser Erkrankung bewusster werden. Außerdem hoffe ich, dass auch Kliniken, die auf Essstörungen spezialisiert sind, erkennen wie ernst dieses Thema ist und wie wichtig es ist, den Zusammenhang zu erkennen, ihr Fachpersonal dahingehend zu schulen!

Regina hat Diabulimie und erzählt ihre Geschichte…

Diet meal. White plate with weight scale

Diabulimie: Selbstmord auf Raten. Bildquelle: Fotolia.com © viperagp

 

„… Ich heiße Regina und bin 33 Jahre jung. Ich bin seit 20 Jahren Typ 1 Diabetikerin und leide seit 18 Jahren an dieser zerstörerischen Essstörung… Es ist so wichtig auf Diabulimie aufmerksam zu machen, denn die Bestroffenen brauchen Hilfe, so früh wie möglich. Leider habe ich es selbst erst Jahre nicht verstanden, dann verheimlichte ich es sehr lange… jetzt sind meine Nieren geschädigt, meine Augen, meine Nerven. Ich bin erwerbsunfähig und ich habe am ganzen Körper so starke Schmerzen, dass ich Morphium spritzen muss. Ich lag bis zu 30 Mal im Koma und musste immer wieder ins Krankenhaus. Lange Zeit hat niemand etwas gemerkt.

Heute bin ich immer noch mit dem Insulin am kämpfen, habe einige stationäre Therapieerfahrungen gemacht. Leider ist dieses Krankheitsbild noch immer sehr unbekannt… Ich kann nur jedem Betroffenem raten, sich Hilfe zu holen und sich dafür nicht zu schämen. Es ist ein schwerer und langer Weg. Es ist Suizid auf Raten und der Insulinmangel frisst nicht nur die Fettzellen auf, sondern auch deine Lebensenergie und deine Lebensfreude…“

Regina beschreibt mir, ihren langen zerstörerischen Weg noch etwas genauer…

Hilfeschrei: Der Weg in die Klinik…

„Ich saß auf dem auf der Rückbank im Auto meiner Eltern. Meine Atmung war schwer (ich roch selber das Aceton) und hatte großen Durst, konnte aber vor Übelkeit kaum was trinken. Meine Mutter stütze mich unter den Armen, als ich versuchte auf der Raststätte zu Toilette zu gehen! Ich hatte so große Angst, war so aufgeregt vor diesem Aufenthalt, dass ich mich durch sehr hohe Werte versucht hatte zu betäuben, und dabei völlig entgleiste.“

„Warum spritzen Sie denn kein Insulin?“

„Als wir in der Klinik ankamen, waren sie dort total überfordert mit mir. Es dauert eine Ewigkeit bis ein Arzt mal entschied, ich müsste auf eine Intensivstation. Es war eine meiner ersten schweren Ketoazidosen, aber es war erst der Anfang von meinem langen zerstörerischen Weg! Ich weiß noch wie der Arzt in der Klinik sich verärgert über mich beugte und fragte: ‚Was soll das denn, warum spritzen sie sich denn kein Insulin?‘

Von meinem Krankheitsbild wussten sie damals nicht viel, in einer er berühmtesten Esstörungskliniken Deutschlands.

… Ich spritzte letztendlich überhaupt kein Insulin mehr. Manipulierte mein Gerät und log Ärzte und Schwestern an.“

Gibt es überhaupt einen Namen für diese „Störung“?

„Ich verließ die Klinik nach neun Wochen ehrlich gesagt erleichtert. Von Diabulimie stand nichts in den Entlassungsbriefen – gab es überhaupt schon einen Namen für diese Störung?…“

Ich habe meinen Körper zerstört

„Es gab viele Rückschläge und ich habe mich und meinen Körper demoliert/zerstört! Ambulant habe ich bis heute keinen Therapeuten gefunden, ich wurde meistens schon am Telefon abgelehnt. Sobald ich mein Krankheitsbild erläuterte kam die Absage. Niemand traute sich zu, mich zu behandeln.“

Warum kann ich nicht wollen?

„Ich wäre beinah an an der Erkrankung verstorben und ich bin heute noch nicht ‚geheilt‘ oder befreit davon. Ich habe am ganzen Körper Folgeschäden. Genau die Schäden, die mir die Ärzte früher in Büchern zeigten und mich immer davor warnten. Vom Verstand her wusste ich immer, was passieren kann. Aber es half nichts. Die Frage ist doch: ‚Warum kann ich nicht wollen? Warum bin ich so zerstörerisch mit mir selbst?’…

Schritte aus dem Diabulimie-Teufelskreis

Ein wichtiger Schritt aus diesem Teufelskreis heraus ist es, sich selbst zu verzeihen. Und darüber zu sprechen! Dem Gefühl von Ohnmacht und Angst Worte zu verleihen. Aufhören sich ständig mit anderen zu vergleichen, die ja den Anschein haben, alles richtig zu machen. Sich nicht fertig zu machen, wenn andere ihren Diabetes besser im Griff haben. Es ist viel hilfreicher sich seinen Weg vor Augen zu halten. Den Weg, der hinter uns liegt und den Weg der noch vor uns liegt. Das Leben liegt zwar in unseren Händen, wir sind dafür verantwortlich. Aber es kann hilfreich sein, auf seinem Weg stützende Hände zu haben. Hände die einen halten, wenn man droht abzustürzen. Wir sind nicht alleine!

„Steff, das war nur ein kurzer Ausschnitt meiner Geschichte“

…Steff, ich könnte so vieles Schreiben. Das ist nur ein kurzer Ausschnitt meiner Geschichte. Ich könnte noch sie viel mehr schreiben, über das was mir wiederfahren ist, über das worunter ich jahrelang litt und immer noch leide. Meine Schmerzerkrankung, die ganzen Schäden, wie mein Leben damit verlaufen ist…was ich alles verloren habe, was es alles zerstört hat…aber auch was ich gewonnen habe… an Erfahrungen.

DANKE REGINA!!!

Mir fehlen die Worte!

Deshalb übergebe ich das Schlusswort auch an Regina:

„Sie diagnostizierten mir so einiges an den Kopf, aber niemand versteht die Komplexität meiner erkrankten Seele.“

Geteilte Freude ist doppelte Freude!Share on Google+Share on FacebookTweet about this on TwitterPin on Pinterest